Coregulation: Warum wir andere brauchen, um uns sicher zu fühlen
Coregulation ist ein fundamentaler Bestandteil unseres sozialen Lebens. Sie ist unerlässlich für unsere emotionale Gesundheit. Als soziale Wesen sind wir darauf angewiesen, uns mit anderen Menschen zu verbinden und uns hier quasi gegenseitig coregulieren zu lassen. Durch Coregulation können wir ein Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit entwickeln, was wiederum unser parassympathisches Nervensystem aktiviert und Stress reduziert.
Dabei ist die Coregulation die effektivste Möglichkeit, aus überfordernden oder überwältigenden Situationen auszusteigen und unser Nervensystem wieder zu stabiliesieren. Leider ist es heutzutage vielen Menschen nicht mehr möglich dieses einfache und effiziente Mittel zu nutzen. Warum das so ist und was du dagegen tun kannst, erfährst du hier in diesem Artikel.
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Coregulation – Warum brauchen wir sie?
Wenn wir uns mit dem Thema der Coregulation beschäftigen, dürfen wir uns noch einmal anschauen, was eigentlich mit unserem Nervensystem passiert, wenn wir Stress ausgesetzt sind.
Jeder Mensch hat ein so genanntes Stresstoleranzfenster, was den Bereich unseres Seins ausmacht, in dem wir den Stress, der uns begegnet, gut halten können. Wir verfügen innerhalb dieses Fensters über genügend Kapazitäten, um dem Stress zu begegnen, ihn zu händeln, ohne uns überfordert oder überwältigt zu fühlen. Wenn du hier tiefer einsteigen möchtest, empfehle ich dir folgenden Beitrag: Die Bedeutung eines dysregulierten Nervensystems.
Dann gibt es jedoch Momente oder Situationen, die uns so stark herausfordern, dass unsere Kapazitäten nicht mehr ausreichen, um diese Situation gut zu meistern. Wir merken das daran, dass wir entweder in die eine Richtung reagieren und extrem über aktiviert sind. Wir fahren buchstäblich aus der Haut, sind auf 180 und können unsere Wut nicht mehr sinnvoll kanalisieren. Wir schreien unser Gegenüber an oder beschimpfen es mit unheilbaren Vorwürfen.
Es gibt eine weitere Möglichkeit, woran wir merken, dass wir die Situation nicht angemessen halten können: und zwar wenn wir in eine sogenannte Unterreaktion rauschen. Das bedeutet, dass wir uns abspalten von unseren Gefühlen, eine Art Taubheit in uns wahrnehmen, keine Gefühle mehr zulassen und in eine Art Tunnel rutschen. Wir nehmen dann die Situation gar nicht mehr wirklich mit alle unseren Sinnen wahr, um uns hier zu schützen.
Beide Varianten sind extrem anstrengend für unser System und wir müssen sehr viel Energie aufwenden, um wieder in einen regulierten Zustand zurück zu kehren, auch wenn man das in der zweiten Variante so nicht annimmt. Doch das ist ein ganz zentrales Element und wichtig zu verstehen. Denn auch die Unteraktivierung zieht unser System leer, da es sehr viel Energie kostet, den Körper eben nicht spüren zu lassen und ihn in einer Art Nebel zu lassen.
Coregulation – Was ist das?
Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, auf so eine überwältigende Situation zu reagieren. Verfügen wir über ein reguliertes, gut funktionierendes Nervensystem, wird es in der Lage sein, uns relativ zeitnah wieder in unser Stresstoleranzfenster einzupendeln. D.h. wir schwingen dann noch eine Zeit lang rauf und runter, bis wir wieder eine ausgeglichene Balance in uns spüren.
Eine andere Möglichkeit ist es, dass wir uns selbst regulieren. Das bedeutet wir wenden eines der vielen Tools an, die es zur Regulation des Nervensystems gibt und pendeln uns auf diese Art und Weise wieder innerhalb unseres Stresstoleranzfensters ein. Hierbei ist es jedoch unerlässlich uns genau zu kennen und zu wissen, in welchem State wir uns aktuell befinden. Denn es gibt so viele Tools da draußen im World Wide Web, doch nicht jedes toll hilft in jedem Zustand. Im Gegenteil: Manchmal können wir durch das »falsche« Tool unser Nervensystem langfristig sogar noch mehr belasten.
Die dritte Möglichkeit aus so einer überfordernden Situation heraus zu kommen ist die so genannte Coregulation. Hier suchen wir aktiv nach Hilfe oder bekommen sie im besten Fall sogar direkt angeboten und lassen uns über einen Mitmenschen oder ein Tier coregulieren.
Coregulation bedeutet dann, das uns ein Mensch einfach nur hält in diesem Moment. Coregulation bedeutet, dass dieser über seine Stimme und die wohlwollenden Worte, die er formuliert, uns dazu bringt, ruhiger zu werden und uns wieder mit uns zu verbinden. Coregulation bedeutet, dass dieser Mensch uns sanft berührt und wir uns dadurch wieder sicher fühlen. Coregulation bedeutet, dass uns dieser Mensch auffordert eine gemeinsame Bewegung zu wagen, damit wir uns wieder in unserem Körper spüren. Coregulation bedeutet, dass wir uns an ein Haustier anschmiegen, um unseren Körper wieder klarer zu spüren und uns mit dem Tier verbinden.
Die Formen der Coregulation sind so mannigfaltig. Das wesentliche dabei ist, dass wir uns wieder mit uns verbinden, wieder in Kontakt mit unserem Körper und unseren Gefühlen kommen und darüber wieder eine Sicherheit in unserem System herstellen.
Warum ist Coregulation so viel wirkungsvoller als alles andere?
Nun ist die Coregulation die effektivste Möglichkeit aus einem überfordernden Moment auszusteigen. Doch warum ist das so?
Das hat mit einem ganz zentralen, ureigenen Fakt unseres Seins zu tun: Wir Menschen müssen alle Teil von etwas sein. Das Gefühl von Zugehörigkeit ist für uns Menschen – nach genügend Nahrung und einem sicheren Zuhause – das wichtigste Element dafür, dass wir uns sicher fühlen können im Leben.
Und diese Zugehörigkeit kann heutzutage in den verschiedensten Lebensbereichen entstehen: in der Partnerschaft, in der Familie, im Freundeskreis, als Teil eines Teams oder einer Gemeinschaft.
Was auch immer es für uns ist: Zugehörigkeit lässt uns sicher fühlen und reduziert Stress. Wenn wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen, dann aktiviert das unser parasympathisches Nervensystem. Wir werden hier mit Hilfe unseres Umfelds coreguliert. Es fällt uns leichter ruhig zu bleiben und wir können uns dem Moment hingeben – mit einem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Dadurch können wir unsere Schutzreflexe endlich mal runterfahren. Wir müssen nicht mehr ständig aufpassen und können statt dessen entspannen.
Wenn wir uns verbunden und zugehörig fühlen, wird unser ventraler Vagus aktiv. Das ist der Teil unseres Nervensystems, der uns dabei hilft uns in Sicherheit fühlen. Wir sind dann bereit zu sozialer Kontaktaufnahme und offen für das Leben – wir fühlen uns schlichtweg lebendig.
Mit einem Gefühl der Zugehörigkeit können wir besser mit den unweigerlich auftretenden schwierigen Phasen des Lebens umgehen und schaffen es, schneller wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Denn wir fühlen uns gehalten und unterstützt. Das ist gelebte Coregulation.
Dr. Stephen Porges, der Begründer der sogenannten Polyvagaltheorie (nähere Infos dazu findest du hier: Auf der Suche nach Sicherheit mithilfe der Polyvagal-Theorie) beschreibt es folgendermaßen:
Wenn wir uns gegenseitig regulieren, fühlen wir uns sicherer im Hier und Jetzt. Wir werden großzügiger gegenüber anderen, einladender und zugänglicher.
Warum nutzen nicht alle Menschen die Superkraft der Coregulation?
Noch einmal zusammengefasst: unsere natürliche Lebenskraft strebt nach Verbindung!
JEDER Mensch kommt also mit dem existentiellen Bedürfnis nach Bindung auf die Welt. Es ist überlebenswichtig für uns.
Wenn wir nun aber im Laufe unseres Lebens Bindung und Nähe als nicht sicher erlebt haben, können wir hier Ängste genau davor entwickeln. Das ist dann keine Frage unserer Persönlichkeit, sondern es liegt schlichtweg an den prägenden Erfahrungen, die wir gemacht haben, in denen wir quasi gelernt haben, dass Bindung nicht sicher ist.
Und das stellt für immer mehr Menschen ein unglaubliches Problem dar. Denn wir meiden dann echte Verbindung und Nähe. Oft merken wir das lange Zeit überhaupt nicht, weil es inzwischen so normal ist. Viele Menschen um uns herum tun nämlich genau das gleiche. Wir halten Menschen auf Abstand, gehen keine emotionalen Risiken ein – wir könnten ja verletzt werden und am Ende bleibt da nur ein vages Gefühl zurück, dass es da doch noch mehr geben muss. Dass da etwas fehlt.
Und das, was da fehlt, ist echte Nähe.
Wenn wir diese Nähe als gefährlich betrachten, dann können wir uns über unsere Mitmenschen auch nicht mehr coregulieren lassen und da beißt sich die Katze in den eigenen Schwanz. Denn wir erinnern uns: Coregulation ist die effektivste und eigentlich einfachste Möglichkeit aus überwältigenden Situationen auszusteigen.
Ohne Coregulation ist es für die meisten Menschen schlichtweg gar nicht möglich aus ihren toxischen Mustern nachhaltig auszusteigen. Denn NEIN, wir können nicht alles alleine für uns selbst regulieren. Unser Gehirn und unser Nervensystem sind nicht dafür konzipiert, uns immer selbst zu regulieren.
Wir sind soziale Wesen, die andere soziale Wesen brauchen, um herausfordernde Situationen gesund zu bewältigen. Wir brauchen die wundervolle Magie der Coregulation, um nachhaltig zu heilen. Damit wir die Anspannungen in unserem Körper, die daraus resultieren, dass wir bereits andere überwältigende Situationen allein gemeistert haben, frei setzen können. Damit wir verkörperte Gefühle und Empfindungen, für die wir im Augenblick ihres Entstehens keine Kapazitäten hatten, endlich freisetzen können. Und und und.
Hinzu kommt, dass wenn wir bisher viele Erfahrungen gemacht haben, bei denen wir uns allein gefühlt haben oder in denen wir uns nicht gut regulieren konnten, dann haben wir meist keine Kapazität mehr dafür, gut zu uns selbst zu sein. Uns fehlt es hier an Selbstliebe und natürlich auch an Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge. Dabei sind das neben der Coregulation die entscheidenden Faktoren, die wir am meisten brauchen.
Denn mit ihnen können wir lernen …
✅ … dass es okay ist, unsere Bedürfnisse zu haben, ganz egal ob andere sie gerade erfüllen mögen oder nicht. Sie dürfen da sein.
✅ … dass es völlig normal ist, Impulse zu haben – Handlungsimpulse, Bewegungsimpulse und so viele andere mehr. Dass wir sie haben dürfen, ohne uns dafür zu verurteilen und ohne sie zwingend umsetzen zu müssen.
✅ … dass alle Emotionen sein dürfen. Dass wir sie fühlen können und dass sie wieder vergehen. Dass sie uns wertvolle Informationen liefern. Und dass sie nicht gefährlich sind.
Auf diese Weise können wir lernen, uns selbst zu akzeptieren, für uns und unser Wohlergehen zu sorgen und uns selbst wichtig zu nehmen.
Gemeinsam regulieren – So kannst du Coregulation für dich erleben?
THE GOOD NEWS: Wir können unsere Fähigkeit, Nähe zuzulassen noch nachträglich ausbilden.
Sicher, das geht nicht von heute auf morgen aber in kleinen Schritten kannst du dich da hin arbeiten.
Auch du wirst in deinem Leben Momente haben, in denen du dich sicher, wohl und rund um zufrieden fühlst. Wenn wir nun davon ausgehen, dass unsere Nervensysteme permanent miteinander interagieren, ohne dass wir das bewusst wahrnehmen, kannst du dir diese Momente zu Nutze machen. Denn eins ist klar geworden: wir sind soziale Wesen und Teil dieser Welt. Und wir können diese Welt zu einem besseren Ort machen, in dem wir uns mit unseren Mitmenschen verbinden.
Im täglichen Leben können wir mit kleinen Gesten und Worten anderen ein Gefühl von Ruhe und Verständnis vermitteln. Wir können in dem Moment die Person sein, die Coregulation gibt. Auf diese Weise schlagen wir gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Denn zum einen bieten wir den Personen um uns herum einen sicheren Raum, sich selbst zu erleben und zum anderen fühlen wir uns auch unweigerlich mehr verbunden mit uns selbst. Zu guter Letzt führt dieses positive Erleben von Nähe und Gemeinschaft dazu, dass unser Nervensystem Schritt für Schritt begreift, dass Nähe nicht unweigerlich gefährlich ist, sondern etwas sehr heilsames sein kann.
Wir können also dadurch, dass wir gemeinsam immer wieder in sichere Räume eintreten, aktiv daran arbeiten, noch mehr solcher sicheren Räume zu schaffen – sowohl physische als auch emotionale. Beginnen wir hier also bei uns selbst – kümmern wir uns um unsere Nächsten, hören wir einander zu, versuchen wir, einander zu verstehen. Denn Kleines bewirkt oft große Veränderungen.
Wenn du deine Welt verändern willst, dein Erleben, dann starte damit, anderen Menschen zu ermöglichen, sich sicherer zu fühlen.
Denn nicht zuletzt fällt es uns, wenn wir uns mit anderen Menschen verbunden und sicher führen, leichter unsere Emotionen zu regulieren und wir sind dann in der Lage schneller wieder in unser Gleichgewicht zu kommen.
Und wenn du noch mehr tun möchtest, dann komm in meinen Raum. In meiner wöchentlichen Nervensystem Practice biete ich dir einen sicheren Raum, dich und dein Nervensystem Schritt für Schritt zu regulieren. Gemeinsam üben wir uns hier in Langsamkeit, Kontinuität und somatischer Praxis – um deinem Nervensystem die Chance zu geben, sich von alten Mustern zu lösen und neue, gesunde Wege zu finden.
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